Baumkreuz, Freiheit und Demokratie

Wenn Ralf-Uwe Beck zum Iftaer Baumkreuz an der Bundesstraße 7 zwischen Eisenach und Kassel kommt, hat er immer eine kleine Säge und eine Gartenschere dabei. Mit Kennerblick geht er an den jungen Eschen vorbei, schneidet kleine Triebe am Stamm ab, damit die Kraft in die Krone geht. „Die Eschen sind von einem Pilz befallen, der zum Eschentriebsterben führt“, erklärt der Pfarrer während er bereits abgestorbene Bäume ganz absägt. „Die müssen wir im Herbst nachpflanzen.“

Das Iftaer Baumkreuz besteht aus zwei sich kreuzenden Alleen. Genau dort wo die ehemalige Grenze bzw. die hessisch-thüringische Landesgrenze die B7 kreuzt, sind zwei Alleen entstanden. Auf dem ehemaligen Todesstreifen direkt neben dem original erhaltenen Streckmetallzaun befindet sich beidseits der Bundesstraße jeweils eine Allee aus Eschen und Ahornbäumen. Entlang der B7 wurden in Richtung Kassel und in Richtung Eisenach Linden gepflanzt. Insgesamt pflanzten engagierte Menschen aus ganz Deutschland in diesem Bereich mehr als 1000 Bäume.

Von Anfang an dabei war Ralf-Uwe Beck, der zu Wendezeiten Pfarrer in Pferdsdorf (unmittelbar an der Grenze zu Hessen) war und in Creuzburg (Wartburgkreis) wohnte. „Es waren kuriose und unruhige Zeiten“, fasst er die Monate nach der Wende zusammen. Ständig seien Menschen zu ihm mit den verrücktesten Ideen gekommen, was man alles machen könnte. Sie alle suchten Ende 1989 und Anfang 1990 Menschen aus der DDR als Mitstreiter. „Es sollten Personen aus vertrauenswürdigen Strukturen außerhalb des Politapparates sein. Und diese Strukturen existierten im kirchlichen Umfeld. So saßen eben auch eines Tages Künstler aus Kassel da und wollten in Anlehnung an ein documenta-Projekt von Joseph Beuys „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ auf 70 Kilometern eine Allee zwischen Kassel und Eisenach pflanzen. „Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gar kein Bock auf das Projekt.“ Als aktives Mitglied der kirchlichen Umweltgruppe und Mitglied der Bürgerbewegung in der DDR hatte er ganz andere Themen. „Aber sie ließen nicht locker. Und wir entwickelten das Projekt weiter.“ Es sollten möglichst viele Menschen einbezogen werden und aus der Allee wurde ein Kreuz. „Die Idee war, die Bäume direkt in die alte Problemzone, also auf den Todesstreifen, und an die neue Problemzone, die neue Bundesstraße zu pflanzen.

Am 16. und 17.November 1990 startete das Kunstprojekt und die ersten 140 Bäume wurden gepflanzt. Die Allee bis Eisenach (etwa 20 Kilometer) ist fast fertig, bis Kassel nicht. Beck erklärt das Problem folgendermaßen: Alte Alleen haben Bestandschutz, aber neue Bäume müssen 4,50 Meter Abstand zur Straße haben. Diese Flächen werden meist anderweitig genutzt, so dass es kaum möglich ist, neue Alleen anzulegen. Thüringen war in den ersten Jahren sehr kulant, aber mittlerweile sind keine Neuanpflanzungen mehr möglich.

Beck ist begeistert, dass sich auch nach bald 30 Jahren immer noch so viele Menschen für dieses Landschaftskunstwerk engagieren. „Jedes Jahr am ersten Samstag im November kommen Menschen aus ganz Deutschland, um an dem Baumkreuz weiterzuarbeiten – Künstler, Naturschützer, Bürger aus der Region, Menschen vom Grünen Band oder vom Verein Mehr Demokratie. „Es kommen jedes Jahr andere Menschen, wir wissen auch nie wie viele kommen. Aber zwischen 50 und 60 sind es immer.“ Treffpunkt ist um 9 Uhr, unabhängig vom Wetter am Baumkreuz. Und dann wird gepflanzt, meist Ersatzpflanzungen, freigeschnitten, das Grundstück gepflegt etc. Menschen vor Ort kümmern sich um Essen und Getränke, die Feuerwehr stellt ein Zelt auf. „Es ist immer eine tolle Stimmung, die die Menschen fasziniert“, so Beck. Und es ist ein Anlass darüber nachzudenken, während man hier auf dem ehemaligen Todesstreifen Bäume und Landschaft pflegt, was die Grenze für die Menschen bedeutete.  Beck gibt zu bedenken: „1989 gab es weltweit 16 Grenzen dieser Art und heute sind es 70 mit steigender Tendenz.“

Der Pfarrer wird nachdenklich: „Wieviel Energie ist verloren gegangen, weil wir nach der Wende einer vermeintlichen Freiheit aufgesessen sind.“ Beck ist der Auffassung, dass der Aufbruch und der Gestaltungswille, der 1989 in der DDR herrschte, „in den Supermarktregalen des Westens hängen geblieben ist.“ Alles, was nach dem Mauerfall passiert sei, hält er für menschlich verständlich. „Es war logisch, dass die Menschen von dem goldenen Westen, den sie aus dem Fernseher kannten, ein Stück abhaben wollten.“ Der Slogan „Wir sind das Volk“ sei 1989 richtig und passend gewesen. Aber nach der Wende haben wir nicht mehr auf uns und auf das, was wir wollen, geschaut, sondern uns nach dem Westen gesehnt. Er erinnert sich an DDR-Bürger, die nach dem Mauerfall der Meinung waren, der Westen solle die marode DDR in Ordnung bringen. Erst machten sich immer mehr, dann immer weniger Menschen Gedanken, wie eine neue DDR aussehen könnte. „Die Kirche war anfangs Katalysator für die Revolution, hat Raum gegeben, sich zu verständigen, Forderungen zu formulieren, und hat geholfen, den Zorn der Menschen abzukühlen, so dass es gewaltlos blieb. Wir sind durch die Kirchen auf die Straßen und Plätze gezogen und haben gemeinsam überlegt, wie das Land aussehen soll, in dem wir leben wollen. Aber dieser Aufbruch hat nicht lange gehalten.“ Rückblickend fragt er sich, ob die Revolution vielleicht nicht konsequent war: „Waren wir als Bürgerbewegung zu brav und haben die Revolution gar nicht zu Ende geführt? Und ist deshalb vieles auch nicht aufgearbeitet worden, sondern im Friede-Freude-Einheits-Eierkuchen untergegangen?“

Der Slogan „Wir sind das Volk“ drückte laut Beck den damaligen Gestaltungswillen der Menschen in der DDR aus. „Aber dann sind wir einem weichgespülten Freiheitsbegriff aufgesessen: Die Konsumfreiheit reicht nur soweit wie der Dispokredit. Aber wir brauchen die Freiheit, die Verhältnisse zu ändern und das geht nur über Mitbestimmung.“ Für diese Ziele engagiert sich Ralf-Uwe Beck seit 20 Jahren im Verein „Mehr Demokratie“, in dessen Bundesvorstand er ist. Der Verein setzt sich unter anderem für „direkte Demokratie“ ein, vor allem für bundesweite Volksentscheide. Politische Sachentscheidungen sollten danach nicht allein von gewählten Volksvertretern, also Abgeordneten, sondern auch vom Volk getroffen werden können. Die Grenzen der direkten Demokratie müssten nach den Vorstellungen des Vereins klar definiert werden. So dürften zum Beispiel Grund- und Minderheitenrechte nicht verhandelbar sein.

So wie die Demokratie immer weiter entwickelt werden muss, so wird auch das Kunstprojekt „Baumkreuz“ nie fertig sein. Es wird sich verändern, aber ein Zeichen der Erinnerung an diese Grenze bleiben.