Wir kennen uns von einer Projektreise nach Tansania. Über deutsch-deutsche Themen haben wir uns nie unterhalten. Erst jetzt, als mich Uschi Baumgärtel-Blaschke aus Eschwege während einer Etappe auf dem Grünen Band begleitet, kommen wir auf diese Themen. Einen Tag lang laufen wir gemeinsam durch den zu DDR-Zeiten komplett gesperrten Wald nordwestlich von Gerstungen, den sogenannten „Thüringer Zipfel“. Wir laufen auf dem ehemaligen Kolonnenweg und teilweise sogar auf der wirklichen Grenzlinie. Das erkennen wir an den historischen Grenzsteinen zwischen Kurfürstentum Hessen und dem Herzogtum Sachsen-Eisenach. Es geht über mehrere Gipfel steil auf und ab und wir kommen ins Erzählen…
Uschis Eltern kommen aus Asch im Egerland im heutigen Tschechien. Es ist der nördliche Zipfel Tschechiens zwischen Bayern und Sachsen. Die Familie wurde 1946 vertrieben. Ein Teil landete in Bayern, ein Teil in Sachsen. Uschi erinnert sich daran, dass es Zufall war, wohin man verfrachtet wurde. Wenn man zum Bahnhof kam, stieg man in den ersten Zug ein. Uschis Mutter landete mit ihrer Schwester in Bayern. Auch der ehemalige Arbeitgeber der Eltern kam in die gleiche Region. Er wollte sich wieder selbstständig machen. Da der Textilunternehmer aber Angst vor den Russen hatte, sollte der Betrieb weit im Westen auf der anderen Seite des Rheins gegründet werden. Viele ehemalige Mitarbeiter, so auch Uschis Familie, gingen mit ihm an die Mosel. Hier wurde Uschi 1951 geboren. Nach dem Studium in Gießen ging sie als Ökotrophologin in den hessischen Staatsdienst in die Agrarverwaltung und landete in Eschwege.
„Durch die Verwandtschaft in Sachsen war die DDR bei uns zu Hause immer ein Thema“, erinnert sie sich. „Meine Mutter hat über Jahrzehnte Päckchen gepackt.“ In den 80er Jahren begann sie mit ihrem Mann, regelmäßig in die DDR zu reisen. „Die Familie meines Mannes hatte Freunde in Erfurt, die wir regelmäßig besuchten und dann auch zu meiner Verwandtschaft nach Sachsen fuhren.“ Sie erzählt von den Visumsanträgen, bis zu den Einreisen über den Grenzübergang Herleshausen mit manchmal mehrstündigen Wartezeiten, vom Melden bei der örtlichen Polizei, vom Hausbuch etc. „Unser Ziel war es, die Menschen zu treffen, den Kontakt zu halten. Da die Freunde und Verwandten aus der DDR uns nicht besuchen konnten, fuhren wir hin.“ Erst im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass sie durch diese mehrtägigen Besuche, einen tiefen Einblick in das Leben der Menschen bekommen hat. „In Erfurt wohnten wir mit unseren Freunden in deren Datscha am Stadtrand von Erfurt.“ Die Eineinhalb-Raumwohnung wäre viel zu klein gewesen, um dort Besuch zu empfangen.
Sie erinnert sich an einen Ausflug mit den Freunden nach Dresden – mit dem Westauto, da die Freunde noch auf ihren Trabi warteten. „Meine Freundin hatte ein riesiges Picknick vorbereitet, da sie befürchtete, dass wir in Dresden keinen Platz in einem Restaurant bekämen.“ Von der Freundin weiß sie, dass man bei Westbesuch manchmal bessere oder mehr Lebensmittel bekam als einem normalerweise zustand. „Das war die Bückware, die für solche Anlässe unter dem Ladentisch gehortet wurde.“
Nach der Wende fuhr sie auch mit ihren Eltern zu der Verwandtschaft nach Sachsen und nach Asch in Tschechien. Es gab noch Kontakte, so dass sie in der sächsisch-tschechischen Grenzregion auch einige Ferien verbrachte.
Historisch gesehen ist die Grenze bzw. die ehemalige Grenze für Uschi immer noch wichtig, aber nicht, was die Menschen oder die Kontakte angeht. „Ich fahre heute noch mit jedem Besuch, der nicht aus der Region kommt, an die ehemalige Grenze.“ Sie hält es auch für wichtig, dass diese Erinnerung wach gehalten wird. Sie geht davon aus, dass das Thema Grenze sie aber wahrscheinlich nicht so berührt hätte, wenn sie an der Mosel geblieben wäre. „Aber so war es in unmittelbarer Nähe.“
Mittlerweile besitzt Uschis Familie sogar ein paar Waldstücke, die ehemals ihrem Großvater im Egerland gehörten. Durch Grenzbereinigungen in den 30er Jahren lag dieser Wald dann in Sachsen. Dadurch konnte er ihn auch nach der Ausweisung 1946 in seinem Besitz halten, während alles andere Eigentum in der damaligen Tschechoslowakei konfisziert wurde. Nach seinem Tod 1988 ging es um die Erbfrage. Keiner der direkten Nachkommen wollte den Wald in der DDR haben, er war ja nur unter großem Aufwand erreichbar. Außerdem gab es in den erbberechtigten Generationen jeweils mehrere Personen, was komplizierte Erbgemeinschaften bedeutet hätte. „So hat letztendlich mein Sohn – der Urenkel meines Großvaters, damals der einzige in dieser Generation – den Wald im Alter von zehn Monaten geerbt. Mein Mann war – mehr aus nostalgischen Gründen – bereit, für ihn die notwendigen Schritte wie Zahlung der Grundsteuer und Abliefern des Deputats an die DDR zu organisieren, nicht ahnend, dass die Geschichte eine unerwartete Wendung nehmen würde und wir zwei Jahre später freien Zugang in unseren Wald haben sollten.“