Prof. Dr. Martin Sabrow
Quelle: ZZF
Foto: Joachim Liebe
Der Historiker Martin Sabrow ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Mit ihm sprach ich während eines Telefoninterviews über Erinnerungskultur hinsichtlich DDR, Grenzöffnung und Wiedervereinigung.
Verblasst die Erinnerung an die friedliche Revolution 1989 schneller, weil es eine friedliche Revolution war?
Das ist schwer zu beantworten, weil wir das Gegenteil nicht kennen. Deutschland hat in seiner Geschichte keine blutigen Revolutionen, sondern nur blutige Gegenrevolutionen erlebt wie zum Beispiel zu Beginn der Weimarer Republik 1919. Ich glaube nicht, dass der Gewaltcharakter einer Revolution für die Erinnerung entscheidend ist. Wichtig ist eher die weitere Wirkung. Wir haben uns 30 Jahre auf die friedliche Revolution besonnen, weil der Sieg von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit unser demokratisches Selbstverständnis gestärkt hat.
Diese Erinnerungen scheinen mir gegenwärtig etwas zu verblassen, nicht wegen des Zeitabstandes, sondern wegen der brüchiger werdenden Erzählungen über den guten Ausgang der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts. Es scheint, als ob jetzt ein Teil der Probleme, wie wir sie aus der Weimarer Republik kennen, wiederkommen. Daher wird die Erinnerung an die friedliche Revolution schwächer.
Ist die friedliche Revolution abgeschlossen?
Revolutionen sind in der Regel punktuelle Ereignisse; als Ereignis lassen sie sich schlecht über dreißig Jahre hinweg denken. Die Frage ist allerdings, wann war sie abgeschlossen? Mit den Wahlen zur Volkskammer im März 1990 oder mit der staatlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990?
Sind die Ziele dieser Revolution erreicht?
Historische Entwicklungen erlauben selten glatte Ja- oder Nein-Antworten. Das Urteil hängt von der Antwort auf die Frage ab, wer war Träger und wer Protagonist der Revolution war. Diejenigen, die die stärkste Opposition gegen die SED getragen haben, also die Bürgerrechtsbewegung, waren vielleicht am stärksten überrascht über die Entwicklungen im Winter 1989/1990. Viele von ihnen äußerten sich enttäuscht über die Ergebnisse der Revolution. Wenn allerdings das Ziel der friedlichen Revolution eine Demokratie in einem vereinigten Deutschland war, dann wurde das Ziel ohne Abstriche erreicht.
Wenn hingegen das Ziel der Auflehnung die Hoffnung auf ein besseres Leben war, dann muss man das Ergebnis sehr differenziert betrachten. Es ist abhängig von der sozialen Lage, dem Wohnort, dem Alter und vielen anderen Faktoren. Hier gibt es viel Verbitterung und Enttäuschung, die wir über Jahrzehnte zu wenig beachtet haben. Das rächt sich jetzt. Als Historiker sehe ich, dass nach der Revolution nicht alles gut wurde. Wie viele Menschen hatten zum Beispiel zwei Jahre nach der friedlichen Revolution keine Arbeit mehr oder verloren ihre soziale Anerkennung?
War die Parole „Wir sind das Volk“ 1989 auch schon so gemeint, wie sie seit 2015 bis 2019 unter anderem von der Pegida-Bewegung verwendet wurde und heute in den unerträglichen Wahlplakaten des Rechtspopulismus gebucht wird?. Auch nationalistische Erwartungshaltungen verbinden sich mit der Revolution 1989/90.
Braucht es für ein Zusammenwachsen der beiden Gesellschaften in Ost und West eine gemeinsame Erinnerungskultur?
Erinnerungskultur ist der Rahmen, in dem sich das Gespräch über Vergangenheit entwickelt. Und da gibt es Unterschiede in Ost und West. Zum Beispiel gab es die Ereignisse von 1968 in der DDR nicht in der Intensität wie in der Bundesrepublik. Auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war in der DDR ganz anders gelagert als in der Bundesrepublik. Hier liegen kulturelle Differenzen, die man nicht unterschätzen darf. Nach wie vor gibt es auch hinsichtlich der Ereignisse von 1989/90 eine unterschiedliche Erinnerungskultur in Ost und West.
Allerdings muss man hinzufügen, dass es „den Osten“ schon lange nicht mehr gibt. Menschen, die dort leben, haben sich verändert, und die Bevölkerung hat sich vermischt. Viel von der sogenannten „Ost-Identität“ entwickelte sich erst nach 1989 – in der Enttäuschung über den Verlauf der Ereignisse, über den Verlust der eigenen sozialen und kulturellen Stellung, im Trotz gegen die Entwertung der eigenen Lebenserfahrungen, wie die seltsame Auseinandersetzung um Postleitzahlen, Ampelmännchen und Spreewaldgurken zeigt.
Es zerfiel ja nicht nur die Lebenswelt des „realen Sozialismus“. Auch die Hoffnung auf einen Dritten Weg zwischen autoritärem Sozialismus und enthemmtem Kapitalismus, die die Bürgerrechtsbewegung antrieb, zerschmolz unter den vielen Menschen, die die DDR Richtung BRD verließen, und den D-Mark-Angeboten des Westens. Für eine demokratisch erneuerte DDR, auf die im Herbst 1989 alle Regimegegnerschaft setzte, gab es schon im Januar 1990 keine Mehrheit und keine Unterstützung in der breiten Bevölkerung der DDR mehr.
Wird die Erinnerung in Ost und West unterschiedlich gepflegt?
Es kommt auf den Betrachtungswinkel an: Auf staatlicher Ebene dominiert in Ost und West gleichermaßen ein Revolutionsgedächtnis, das auf die friedliche Überwindung von Diktatur und Unrecht konzentriert und die Erinnerungsorte der Repression und der Teilung fördert. Im familiären und privaten Gedächtnis treten andere Aspekte in den Vordergrund, die sich als Arrangementgedächtnis bezeichnen lassen: die Erinnerung an vitale Dorfgemeinschaften, an gelebte Solidarität unter schwierigen Umständen, an das richtige Leben im falschen.
Es werden entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zahlreiche Erinnerungsorte gepflegt. Sie erzählen teilweise sehr persönlich die Geschichten der betroffenen Menschen vor Ort? Erreichen sie damit auch die nächste Generation bzw. was muss man tun, damit man die nächste Generation für diesen Teil der deutschen Geschichte interessiert?
Die Erinnerungskultur folgt nur unter seltenen Umständen den Zukunftserwartungen der Geschichtspolitik, sondern vor allem den Bedürfnissen der Gegenwart im Generationswandel. Die Erinnerung wird so lange lebhaft – und kontrovers – bleiben, solange sie Orientierung für uns heute und morgen gibt. Zum 30. Jahrestag zeichnet sich ab, dass die bloß rituelle Beschwörung des historischen Erfolges allmählich ermüdet, während die Frage an Aufmerksamkeit gewinnt, was damals eigentlich erreicht und was verpasst wurde: Diese neue Perspektive auf 1989/90 wird uns über runde Jahrestage hinaus weiter beschäftigen, und sie wirft Fragen auf, die im Glück über das „Wunder von 1989“ noch völlig absurd erschienen wären: Hat der Verlauf der friedlichen Revolution etwas mit dem unterschiedlichen Wahlverhalten in Ost und West und zur Popularität des Populismus zu tun? Trug der damalige Sturz in die Einheit womöglich auch zu den wachsenden Stadt-Land-Gegensätzen im Osten und zur sozialen und kulturellen Verödung ganzer Landstriche bei?